Stresstest bestanden – Zweifel bleiben

Die deutschen Atomkonzerne sind nun wohl doch in der Lage, den Rückbau ihrer Kraftwerke samt Folgekosten zu tragen. Das jedenfalls ist das Ergebnis einer am letzten Wochenende veröffentlichten Studie im Auftrag der Bundesregierung.

Demnach sind die Energieunternehmen in der Lage, die Kosten für den Atomausstieg aus eigener Kraft zu tragen. „Die Vermögenswerte der Unternehmen decken in Summe die Finanzierung des Rückbaus der Kernkraftwerke und der Entsorgung der radioaktiven Abfälle ab“, kommentierte Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) das Ergebnis des sogenannten Stresstests. Zusammen haben die Konzerne rund 38 Milliarden Euro zurückgelegt. Das reiche aus, um die Kosten vollständig abzubilden, sagte Gabriel.

Die Gutachter der Wirtschaftsprüfungsgesellschaft Klein & Warth Grant Thornton hatten monatelang die Bilanzen der Konzerne durchforstet. Rückstellungen zu bewerten, so meinen die Gutachter, sei „naturgemäß immer eine Bewertung von ungewissen Prognosen“. Deshalb haben sie verschiedene Szenarien durchgerechnet, und offensichtlich hat sich Gabriel eines der angenehmeren herausgepickt.

Denn in ihren Berechnungen gehen die Unternehmen davon aus, dass sie ihre Rückstellungen langfristig mit durchschnittlich 4,58 Prozent verzinsen können. Doch die Gutachter betonen in ihrer Studie, dass sie andere Zinsannahmen für plausibler halten. Für „unseren Bewertungszweck bestmögliche Zinsschätzung“, schreiben sie, komme von der Europäischen Aufsichtsbehörde für das Versicherungswesen, Eiopa. Legt man dann deren Zinsen zugrunde, müssten die Konzerne zwischen 50 und 77 Milliarden Euro an Rückstellungen bilden – weitaus mehr als die Konzerne zurückgelegt haben.

Die Inflation tut ihr Übriges. Beim derzeitigen Preisniveau gehen die Gutachter von 47,5 Milliarden Euro Kosten aus, wobei das meiste für den Rückbau der AKW aufgewendet werden müsste. Bei einer Inflation von 1,6 bis zwei Prozent würden die Kosten über die Jahre auf 78 Milliarden Euro wachsen, und kalkuliert man zusätzliche Kostenrisiken ein, könnten schon 182 Milliarden Euro daraus werden. So schreiben dann auch die Gutachter, das „Risiko, dass über eine Gesamtdauer der Entsorgung bis zum Jahr 2099 eine Unterdeckung auftritt“, liege „deutlich über 25 Prozent“.

Gabriel will davon allerdings nichts wissen, was wohl auch damit zusammenhängen dürfte, dass er den an der Börse gebeutelten Konzernen unter die Arme greifen will. Allein die Meldungen von Mitte September, auf die Konzerne kämen 30 Milliarden Euro Nachforderungen wegen des Tests zu, hatten den Kurs der RWE-Aktie um zehn Prozent absacken lassen. Gabriel sprang damals schon den Konzernen zur Seite und sprach von „unverantwortlichen Spekulationen“. Die Süddeutsche Zeitung (12. Okt. 2015) mutmaßt nun, dass seitdem die stressfreien Szenarien stärker hervorgehoben wurden. So wundert es dann auch nicht, wenn Gabriel nun sagt: „Die Szenarien mit den hohen Rückstellungswerten halten wir für unwahrscheinlich“.

Experten und Umweltschützer sehen Gabriels Äußerungen kritisch. „Dieser Test ist eine einzige Beschönigung“, kritisiert Wolfgang Irrek von der Hochschule RuhrWest laut Süddeutscher Zeitung. Normalerweise unterstelle ein Stresstest, ob Unternehmen auch für ungünstige Fälle gewappnet sind. „Stattdessen werden hier Schlussfolgerungen auf Basis risikoloser Erwartungen gezogen.“

Die Ergebnisse des Stresstests bedeuten keine Entwarnung für die Steuerzahler, ist sich Jochen Stay von der Umweltorganisation .ausgestrahlt sicher. So würden in dem Gutachten zahlreiche Risiken ausgeblendet, die selbst in den Worst-Case-Szenarien nicht aufgenommen worden seien. Außerdem seien Informationen aufgetaucht, nach denen die Stromkonzerne Einfluss auf die im Gutachten verwendeten Berechnungsmethoden genommen hätten. Das größte Problem sei aber, dass die Kosten nicht heute anfallen, wo „bei den AKW-Betreibern wirklich noch einiges zu holen ist, sondern teilweise erst in Jahrzehnten“. Ob das Geld dann auch noch da ist, beantworte das Gutachten überhaupt nicht. Zudem werde vollkommen ausgeblendet, dass es zu Kostenexplosionen kommen könnte: „Der Abriss des AKW Würgassen war viermal so teuer als ursprünglich veranschlagt“, und die Kosten für den Abbau des AKW Stade seien explodiert, als man radioaktive Belastungen des Betonsockels entdeckte, mit denen niemand gerechnet hatte.

Wie es mit den Rückstellungen weitergeht, soll jetzt eine Expertenkommission. Diese Woche soll sie noch eingesetzt werden (Bis Redaktionsschluss war sie es noch nicht). Bis Ende des Jahres soll sie dann Pläne entwerfen, wie der Atomausstieg auf langfristige Sicht finanziert werden kann.

PS: Inzwischen wurde die Mitglieder der Kommission ernannt, und sie haben die Arbeit aufgenommen.