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Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende

Domenico Losurdo: Stalin. Geschichte und Kritik einer schwarzen Legende; Köln 2012, Papyrossa Verlag

Nach dem Vorabdruck des Vorwortes in der jungen Welt mehrten sich die Zeichen im Internet, dass von dem Buch eine Generalrevision des gängigen und in den Medien üblichen Stalinbildes erwartet wird. Domenico Losurdo geht es aber nicht darum. Sein Bestreben liegt vielmehr darin, die geschichtswissenschaftlichen Verkürzungen der Totalitarismustheorie zu zeigen. Stalin – und am Ende des Buches auch Mao – dienen ihm als prägnante Beispiele, weil beide auf eine Stufe mit Hitler gestellt werden, wenn sie nicht sogar in noch düsteren Farben präsentiert werden.

Losurdo stützt sich dabei auf eine reichhaltige Forschungsliteratur und es fällt schnell auf, dass die konstruktive Bearbeitung der Geschichte der Sowjetunion einen weiten Bogen um die deutsche Geschichtswissenschaft zu machen scheint. Verschiedene Forschergruppen haben in den letzten zwanzig Jahren in den russischen Archiven gearbeitet und sind zu erstaunlichen Ergebnissen gekommen, die die Vorstellungen aus dem Kalten Krieg über Bord werfen. Dieser Entwicklung hat sich die deutsche Kommunismusforschung um Hermann Weber lange Zeit entgegengestellt. Dieser hatte noch vor einigen Jahren gefordert, das die neuen Erkenntnisse aus den Archiven nicht überbewertet werden sollten und man an den Traditionen festhalten solle. Losurdos Buch kann dabei helfen, die verkrustete deutsche Geschichtswissenschaft aufzubrechen und auf die Höhe der Zeit zu bringen.

Losurdo stellt die einfache Frage, die aber schwer zu beantworten ist: Wie konnte sich das Bild von Stalin, vom hoch angesehenen Politiker zum Monster, wandeln?

Mit der Analyse der Geheimrede Chrustschows fängt Losurdo an, muss sich aber nicht lange bei ihm aufhalten, weil die Geschichtswissenschaft ohnehin die meisten seiner Aussagen ad absurdum geführt hat. Nur die Aussagen über den Geisteszustand Stalins reichen noch bis in die heutige Forschung hinein. So haben z.B. Forscher, die an der Aufklärung des stalinistischen Antisemitismus arbeiteten, sich noch vor ein paar Jahren auf Anton Antonow-Owjssejenko berufen, der den Antisemitismus so erklärte: Stalin hätte Leute mit krummen Nasen gehasst. Losurdo greift diesen Punkt immer wieder in seinem Buch auf und vergleicht mit anderen berühmten Politikern wie Churchill und F.D. Roosevelt. Die Abgründe, die sich im Denken dieser Demokraten auftun, sind erschreckend.

Wichtig und besonders hervorzuheben sind Losurdos Ausführungen darüber, wie innerhalb der KPdSU ein Klima des Misstrauens und der Verdächtigungen entstehen konnte. Als Vergleich dient dabei die Große Französische Revolution. Philosophen wie Kant und Hegel hatten diese Revolution analysiert und hatten festgestellt, dass der messianische Glauben, wie ihn Losurdo nennt, zu den schärfsten Gegensätzen unter den Revolutionären führt. Er zeigt die Bolschewiki nicht als einheitlichen Block, der fest zusammen steht. Am Beispiel von Trotzki, Bucharin und Alexandra Kollontai, die alle irgendwann zur Opposition gehörten, zeigt er diesen messianischen Glauben. Die Revolution scheint in deren Augen der Schalter zu sein, den man nur umlegen muss, um eine bessere Gesellschaft zu haben. Die Forderungen nach Abschaffung des Staates, des Privateigentums, der Familie und dem Verbot der Religion mussten früher oder später mit den Erfordernissen des Lebens und des sozialistischen Aufbaus kollidieren. Forderungen, die nur allgemein bleiben und nicht konkret werden, bilden nach Losurdo die Grundlage für den messianischen Glauben. So war es auch möglich, dass ein falsch verstandener Internationalismus sich direkt gegen die kommunistische Bewegung richtete. Der messianische Glauben führt zur Enttäuschung, wenn er sich nicht erfüllt, und schafft eine Atmosphäre in der jeder den anderen des Verrats bezichtigt.

Die Kommunismusforschung hebt immer wieder die besondere Rolle der Gewalt in der Geschichte der kommunistischen Parteien hervor. Der Gulag, die Hungersnot in der Ukraine und Katyn sind nur einige Beispiele. Losurdo vergleicht diese Beispiele mit der Politik der USA oder Großbritanniens und schlägt der Kommunismusforschung ihre Waffen aus der Hand. Er zeigt, dass Gewalt nicht nur in den kommunistsichen Ländern einen gewissen Stellenwert hatte sondern auch in den demokratischen Ländern.

Das System der Gulags muss man heute differenzierter sehen, zeitlich und räumlich, und das wird durch die Forschungen des Teams um den us-amerikanischen Professor Arch Getty bestätigt. Der Gulag hatte lange Zeit die Funktion der Resozialisierung; es gab Bibliotheken, öffentliche politische Diskussionsrunden und die Insassen hatten die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen und sich eine angemessene Stellung zu erarbeiten. Während der Großen Säuberung ändert sich das grundlegend und in diesen Jahren werden massenweise Menschen erschossen. Hermann Weber gibt die amtlich gesicherte Zahl mit weniger als 700.000 an. Losurdo vergleicht das mit dem Sträflingssystem in den USA. Dort wurden Gefängnisinsassen an private Unternehmer vermietet, die diese durch Arbeit ausbeuten konnten. Die Sträflinge waren der Willkür ihrer Besitzer ausgesetzt, was zu massenweisen Folterungen führte. Die Sterblichkeitsrate lag bei über 40 Prozent.

Der „Hungerholocaust“ war schon vor zwanzig Jahren Gegenstand der Untersuchung. Damals untersuchte der Kanadier Douglas Tootle das Geschehen in seinem Buch „Fraud, famine and fascism“. Er konnte zahlreiche Geschichtsfälschungen nachweisen: Robert Conquest hatte in einem seiner Bücher die Opferzahlen durch Extrapolation in die Höhe getrieben. Dieser hatte eine gegebene Bevölkerungszahl genommen, ein statisches Wachstum über mehrere Jahre angenommen und die so errechnete Bevölkerungszahl mit der tatsächlichen verglichen. Der zu erwartende Fehlbetrag musste seiner Meinung nach, bei der Hungersnot umgekommen sein. Inzwischen gilt dieser Ansatz als nicht wissenschaftlich, weil zu viele Einflussgrößen ignoriert wurden. Aber Losurdo nimmt diesen Fall auf, weil er immer noch in den Geschichtsbüchern in verzerrter Form zu finden ist, und vergleicht ihn mit der Politik der Bevölkerungsdezimierung, die sowohl von den USA und Großbritannien in verschieden Ländern angewandt wurde – mit erschreckendem Ergebnis.

Das Buch von Losurdo ist ein Meilenstein, weil es anhand eines sehr prägnanten Beispiels die Fehler und die Oberflächlichkeit der bürgerlichen Geschichtsschreibung aufzeigt. Gleichzeitig kann es der Ausgangspunkt sein, die Geschichte des weltweiten Kommunismus auf marxistischer Grundlage aufzuarbeiten. Wozu es nicht dienen kann, ist, Verbrechen zu leugnen oder die Stalinzeit zu heroisieren. Losurdos Vergleich des Gulag und des us-amerikanischen Straflagersystems dient nicht der Bagatellisierung der innerhalb von zwei oder drei Jahren erschossenen 700.000 Häftlinge. Auch der Vergleich von Katyn mit den us-amerikanischen Massakern in Korea dient nicht dazu, das Verbrechen zu relativieren. Aber Losurdo will die Dämonisierung der Person Stalins und des politischen Systems der Sowjetunion durchbrechen, um das Verständnis der Zeit zu fördern.

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