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Robert Allertz: Der Jugendwerkhof in Torgau

Robert Allertz: Der Jugendwerkhof in Torgau; spotless Verlag; leider nur als ebook verfügbar

Die Geschichte der staatlichen Jugendhilfe in Deutschland ist mit allerhand Tragödien und Schicksalsschlägen verbunden. Robert Allertz hat ein Buch über den Jugendwerkhof in Torgau geschrieben und erzählt dem Leser allerlei über die staatliche Jugendhilfe in der DDR und der BRD – wobei er untersucht, ob alles, was über den Jugendwerkhof in Torgau geschrieben wird, wahr oder in seiner Zeit besonders war.

Das Menschenbild in der DDR

Dabei geht er recht kritisch mit dem Menschenbild in der DDR um:

„Zu Beginn der 60er Jahre – der Volksbildungsminister hieß Alfred Lemnitz (1905 – 1994), ein von Nazis zu zehn Jahren Zuchthaus verurteilter Antifaschist und ehemaliger Sozialdemokrat – diskutierte man in der DDR-Führung die Frage, was mit straffällig gewordenen Heiminsassen werden sollte. Die Diskussion war von Vertretern des MdI angeregt worden.

Nach dem damaligen Verständnis würde mit der weiteren Entwicklung der sozialistischen Gesellschaft die Kriminalität ‘gesetzmäßig’ aussterben, weil deren gesellschaftliche Ursachen beseitigt seien. Wer Gesetze übertrat, war entweder ein Feind der DDR oder krank, mindestens aber intellektuell nicht auf der Höhe der Zeit, weshalb pädagogisch und ideologisch mit ihm gearbeitet werden musste. Dass es auch andere Grüne geben konnte, weshalb einer zum Mörder, Vergewaltiger oder Dieb wurde, hatte in diese Vorstellung kaum Platz. Der Mensch war laut Marx ein Ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse, und wenn die Verhältnisse menschlich waren, musste auch der Mensch Mensch und also gut sein. Möglicherweise wurzelte in dieser vulgärmarxistischen Vorstellung der Irrtum, dass jeder Mensch von seinen Anlagen her ohne Fehl und Tadel sei. Alles, was dieser simplen Vorstellung widersprach, wurde offenkundig ausgeblendet. Und dabei war die geschriebene Kultur an Beispielen reich, dass der Mensch sowohl gut als auch böse war. […]

Nein, wer in der DDR straffällig wurde, war ein Mensch von gestern, mit bürgerlichen Rudimenten und darum individualistisch, mithin noch nicht überzeugt von den Vorzügen kollektiven Lebens und Erlebens.

Allerdings schien die Statistik dieser Entwicklung zu widersprechen. Die Zahl der Straffälligen nahm nicht mit dem gleichen Tempo ab, wie sich das Tempo der sozialistischen Entwicklung beschleunigte. Insbesondere nach den Grenzsicherungsmaßnahmen 1961, wo das Schlupfloch Westberlin verschlossen wurde. Über die offene Grenze hatten sich oft Straftäter in den Westen abgesetzt, um sich der juristischen Verfolgung zu entziehen. Das ging nun nicht mehr, weshalb die Kriminalstatistik eine unerwünschte Steigerung erfuhr.“ (S. 13 – 16)

Keine Besonderheit der DDR

Ein seltsam-komisches Menschenbild gab es aber nicht nur in der DDR, sondern auch in der BRD. Dort war es allerdings stark religiös geprägt.

„In der Bundesrepublik beispielsweise wurde mit der Heimreform in den 70er Jahren das ‘Gewohnheitsrecht’ abgeschafft, Kinder schlagen zu dürfen, der Freistaat Bayern schloss sich erst 1980 als letztes Bundesland der Regelung an. ‘Die Annahme, der Mensch sei von Natur aus böse, führte in christlichen Heimen der Bundesrepublik zu einem System von Bestrafungen’, kann man in einer abgelegenen Ecke in der Torgauer Ausstellung auf einer kleinen Tafel im schummrigen Halbdunkel lesen. ‘Damit sich der Mensch dem Wirken Gottes öffne, wird sein Wille gebrochen. Kleinste Verfehlungen sind Anlass für harte Strafen wie Arrest, Demütigungen und Schläge. Mitunter werden die Strafen mit religiösen Riten verknüpft. Dazu muss man z.B. auf Erbsen knieend ein Gebet verrichten.’ Neben diesem Text ist ein Foto zu sehen, das eine winzigen, kahlen Raum mit einer Pritsche und einem Schemel zeigt, auf dem eine Emailleschüssel steht. Erläuternd hießt es: ‘Zur Besinnung müssen die Mädchen im Landesfürsorgeheim Fuldatal in Guxhagen (BRD) ohne Matratze im Turmkerker schlafen.’

Wohlgemerkt: Das geschah zur selben Zeit in der Bundesrepublik, als es in Torgau den heute scharf kritisierten ‘Geschlossenen Jugendwerkhof’ gab.“ (S. 17 – 18)

Plädoyer für eine ehrliche Aufarbeitung

Allertz meint, dass es besser gewesen wäre, wenn sich nach 1990 ost- und westdeutsche Pädagogen zusammengesetzt und diskutiert hätten, weshalb es z.B. in DDR-Heimen nie eine Prügelstrafe an Schulen und in Heimen gab im Unterschied zur BRD. Und warum solle die Indoktrination an Heimen in der BRD anders als in den Jugendwerkhöfen der DDR gewesen sein?

„’In vielen kirchlichen Heimen der Bundesrepublik wird die christliche Religion genutzt, um das Verhalten Jugendlicher zu manipulieren’, heißt es in der schon erwähnten abgelegenen Ecke in Torgau unter der bezeichnenden Überschrift: ‘Freiwillige Unterordnung durch erzwungene Überzeugung’. Und erklärend ist hinzugefügt: ‘Die strenge Abschottung vieler Heime schließt unerwünschte Einflüsse von draußen ab. Ein umfassendes Regelwerk bestimmt das Leben drinnen, soll Denken und Handeln der Jugendlichen steuern und sie zu braven, angepassten Bürgern machen. Bis Mitte der 1970er Jahre sollen jugendliche Heimbewohner sich nicht nur äußerlich anpassen, sondern ihre Zwangssituation aus innerer Überzeugung akzeptieren. Mit den Heimreformen der 1970er Jahre wird diese Form religiöser Indoktrination abgeschafft.’“ (S. 18 – 19)

Und Allertz bringt Beispiele für die Situation der Kinder und Jugendlichen in den Heimen der BRD:

„Der Hessische Rundfunk brachte am 15. November 1969 eine Reportage über den Kalmenhof, in der es hieß: ‘Hier werden Kinder systematisch zu Krüppeln gemacht.’ Die Frankfurter Rundschau berichtete Ende der 70er Jahre über den Tod einer 17-Jährigen in einem evangelischen Heim in Bremen, die trotz Schwangerschaft hatte hart arbeiten müssen und über ‘Dunkle Zellen im Don-Bosco-Haus’. Ein jugendlicher Ausreißer war in das katholische Heim in Düsseldorf eingesperrt worden.

Es sind unzählige Beispiele aus jener Zeit dokumentiert, die die damals durchaus gängige Praxis illustrieren.

Reinhard Mohr schrieb unter der Überschrift ‘Unter der Knechtschaft Jesu Christi‘ in der Weltwoche vom 26. Juli 006: ‘Gisela Nurthen war fünfzehn Jahre alt, als sie 1961 ins Dortmunder ‘Heim für gefallene Mädchen’ kam, das von den ‘Barmherzigen Schwestern vom heiligen Vinzenz von Paul’ geführt wurde. Der Grund ihrer Einweisung war so nichtig wie bei vielen anderen ihrer Leidensgenossinnen: Sie benahm sich etwas anders als andere Mädchen ihres Alters, etwas auffälliger und lebenslustiger. Sie hatte ein Elvis-Plakat an der Wand ihres Kinderzimmers geklebt, trug gern kurze Röcke oder enge Hosen, fuhr mit Jungs auf dem Moped durch die Gegend und schrieb einen ‘Liebesbrief’ an einen Zwölfjährigen. Zum Verhängnis wurden ihr ein Tanzabend und eine Nacht, in der sie nicht zu ihrer alleinerziehenden Mutter nach Hause gekommen war.

Ein Streifenwagen der Polizei griff sie zusammen mit einem Freund auf, und schon vierundzwanzig Stunden später entschied ein Richter, der sie nie zu Gesicht bekam, dass sie auf ‘Vorschlag’ ihres Vormunds beim Jugendamt ins Heim verbracht werde. Ein Routinevorgang, wie er damals sehr oft vorkam: Entscheid nach Aktenlage, Denunziationen von Nachbarn eingeschlossen. Vier Jahre dauerte die Haft hinter Klostermauern. Gisela Nurthen war ohnmächtig einem perfiden Repressionssystem frommer Schwestern ausgeliefert, die sie mit Prügeln zu Gebet, Arbeit und Schweigen zwangen. […] Von Anfang an setzte es, auch bei allergeringsten Abweichungen von der festgefügten Ordnung, Schläge und Tritte, bis Blut floss. Beschimpfungen und Verwünschungen, verbale Erniedrigungen jeder Art galten als pädagogisches Prinzip.

War das fetttriefende Billigessen auch noch so ekelhaft, es musste aufgegessen werden – auch das schon erbrochene. Der Gang zur Toilette war nur zu bestimmten Zeiten erlaubt. Wer dazwischen musste, wurde hart bestraft. Dafür weideten sich die Schwestern an der befohlenen Intimreinigung der ‘Sünderinnen’, die sie minutiös beobachteten. Manchmal legten sie auch selbst Hand an beim Scheuern und Schubben der gottlosen Sündenfalle. Das alles war Teil des heiligen ‘Kampfes gegen sich selbst’, für gnadenlose ‘Selbstzucht’ und gegen den ‘inneren Schweinehund’. […]

Ein unglaublicher Höhepunkt der systematischen Quälerei war eine Art Scheinhinrichtung im Herbst 1970. Eine Schwester befahl der neunjährigen Carola, mitten in der Nacht ihr eigenes Grab zu schaufeln. Im Schlafanzug. Sie weinte, sie schluchzte, sie grub. Dann zerrte die Magd Jesu Christi die hilflose Kleine wieder ins Heim. Bis heute ist Carola, seit ihrem 39. Lebensjahr erwerbsunfähig, in psychatrischer Behandlung. […]

Die meisten Heime stammten aus den 20er, 30er Jahren, und es gab nicht nur räumliche Kontinuitäten. Manche Methoden der meist pädagogisch überhaupt nicht qualifizierten Kampfschwestern knüpften fast nahtlos an die Nazizeit an. Mehr noch: Im Kalmenhof in Idstein etwa waren zwischen 1941 und 1945 mindestens tausend Kinder im Rahmen von Zwangssterilisierung und Euthanasie ermordet worden. Viele der ‘Erzieher’ und Angestellten aus dieser Zeit blieben zum Teil bis in die 60er Jahre dort beschäftigt, und erst in den 80er Jahren wurde das Massengrab mit den Kinderskeletten freigelegt.’“ (S. 22 – 25)

Für eine sachgerechte Diskussion

Ob in Torgau oder anderen Heimen der DDR Strafen angemessen, die Unterbringung akzeptabel und das sozialpädagogische Angebot ausreichend waren, kann der heutige Leser kaum entscheiden. Allertz setzt sich für eine sachliche und fachliche Diskussion darüber ein. Es müsse aber auch klar sein, dass die Insassen von Torgau nicht die Unschuldslämmer waren, die sie zu sein glauben. Allertz stellt einige Biografien vor und meint:

„Wer Moped klaut oder die Schule schwänzt, kommt auch heute nicht ungestraft davon. Das heißt nur nicht Jugendwerkhof, sondern ‘Warnschussarrest’ und ‘freiheitsentziehende Maßnahme’, wenngleich auch deren Wirkung umstritten ist.“ (S. 53)

Fazit

Das Buch sollte man lesen, wenn man etwas über die Jugendhilfeeinrichtung der BRD und der DDR erfahren will. Der Autor spart sich Klischees, was besonders gut ankommt. Er stellt auch nicht pauschal gegenüber, sondern tritt für eine sachliche Diskussion über Bildungs- und Erziehungskonzepte ein. Deshalb ist das Buch unbedingt zu empfehlen.

Robert Allertz: Der Jugendwerkhof in Torgau; spotless Verlag; leider nur als ebook verfügbar

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