„Mörder Erdoğan“. Zehntausende gegen den Besuch des türkischen Ministerpräsidenten

Tausende haben letzten Samstag gegen den türkischen Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdoğan und seinen Besuch in Köln demonstriert. Nach Angaben der Alevitischen Gemeinde Deutschlands (AABF) sind rund 60 000 Menschen ihrem Aufruf gefolgt.

Erdoğan war gekommen, um zum zehnjährigen Bestehen der Union Europäisch-Türkischer Demokraten (UETD) zu sprechen, die als verlängerter Arm der konserverativ-islamischen AKP gilt. Zahlreiche Gruppen nahmen an den Protesten teil, von denen die Religionsgemeinschaft der Aleviten die größte war. Der kurdische Dachverband Yek-Kom hatte ebenfalls Tausende mobilisiert. Kommunistische Parteien waren genauso vertreten wie Kemalisten, die Fahnen mit dem Porträt des Staatsgründers Mustafa Kemal Atatürk schwenkten.

Viele Teilnehmer trugen gelbe Bergarbeiterhelme, um an die Grubenkatastrophe von Soma in der Westtürkei zu erinnern. Vor knapp drei Wochen waren dort über 300 Bergarbeiter ums Leben gekommen. Erdoğans AKP-Regierung wird für das Unglück verantwortlich gemacht.

Abgeordnete der Opposition hatten Wochen vorher im türkischen Parlament gefordert, dass die zahlreichen Unglücke in der Mine untersucht werden. Doch die AKP lehnte dies mit ihrer Mehrheit im Parlament ab. Bei seinem Besuch im Unglücksort hatte Erdoğan die Menschenmenge gegen sich aufgebracht, als er sagte, dass solche Unglücke unvermeidlich seien. „So etwas passiert“, hatte er gesagt. Doch seine neoliberale Politik sei für die Katastrophe verantwortlich, werfen ihm Kritiker vor, denn der Staat privatisierte die Mine. Gewerkschaften werfen der Betreiberfirma seitdem vor, die Arbeitsbedingungen zugunsten von niedrigen Preisen zu verschlechtern. So wurden die Förderkosten für eine Tonne Kohle von 130 auf 24 Dollar gesenkt, indem auf Leiharbeit gesetzt und bei der Arbeitssicherheit gespart wurde. Erdoğans Verhalten in Soma trug zudem nicht dazu bei, die Situation zu entspannen: Die 15-jährige Tochter eines verunglückten Bergarbeiters machte Erdoğan für die Tragödie direkt verantwortlich. Daraufhin soll der Premierminister sie in den Schwitzkasten genommen und mit den Fäusten geschlagen haben.

Das brutale Vorgehen der türkischen Polizei gegen Demonstranten, bei dem es immer wieder Tote gibt, wurde von den Demonstranten mit den Worten „Mörder Erdoğan“ kommentiert. Kürzlich erst wurde eine Gedenkveranstaltung für einen Jugendlichen gewaltsam aufgelöst, der von der Polizei getötet wurde. Bei dieser Polizeiaktion im hauptsächlich von Aleviten bewohnten Istanbuler Arbeiterviertel Okmaydani wurde ein unbeteiligter 30jähriger Mann in einem alevitischen Gebetshaus von einem Polizisten erschossen. Viele sehen darin den Beleg, dass der türkische Staat seine Politik gegenüber den Aleviten nicht aufgibt. Eine Rednerin der Religionsgemeinschaft sagte bei der Abschlusskundgebung, dass sie in der Türkei weiterhin nicht als religiöse Minderheit anerkannt werden. So müssten alevitische Kinder immer noch dem einseitig ausgelegten sunnitischen Islamunterricht folgen. Es wäre immer noch Politik des Staates, dass in alevitischen Dörfern Moscheen gebaut werden, während sie für ihre traditionellen Gebetshäuser keine Unterstützung erhalten würden.

Es blieb allerdings nicht bei der Kritik am System Erdoğan. Das Anliegen der Organisatoren wurde am Ende getrübt, als sie den Vertretern der vier großen Parteien des Deutschen Bundestages das Mikrofon übergaben, was ihnen für die letzte Etappe des Wahlkampfes sehr gelegen kam. Einzig die Linken-Politikerin Sevim Dagdelen fand klare Worte für Erdoğan und seine Unterstützer in Berlin. „Jahrelang haben Brüssel und Berlin dem Amoklauf Erdoğan gegen Demokratie und Menschenrechte tatenlos zugesehen“, hat sie der Menge zugerufen. Die Bundesregierung müsse endlich ein Zeichen setzen, dass sie Erdoğans Weg in einen islamistischen Unterdrückerstaat nicht weiter unterstützt.

zuerst veröffentlicht: Unsere Zeit, 30. Mai 2014