Karl Marx gehört zu den beliebtesten Deutschen. Das ZDF ließ 2003 die Deutschen abstimmen, wer der beliebteste Landsmann ist, und über 1,5 Millionen gaben ihre Stimme ab. Karl Marx, der berühmte Philosoph und Revolutionär, wurde auf Platz drei gewählt – hinter Konrad Adenauer und Martin Luther. In allen „neuen Bundesländern“ konnte Marx die meisten Stimmen auf sich vereinen.
Obwohl er einer der berühmtesten Landsleute ist, tut sich das offizielle Deutschland schwer mit ihm. Die CDU würde ihn am liebsten aus dem öffentlichen Bewusstsein tilgen. Vor zwei Jahren hatte der CDU-Wirtschaftsrat die Idee, sämtliche nach ihm benannten Straßen umzubenennen. Allein in Ostdeutschland wären das rund 550 Straßen, Alleen und Plätze.
Marx-Statue bringt Antikommunisten zum Toben
Erst kürzlich wurde wieder über Marx debattiert. Die Volksrepublik China hatte Marx‘ Geburtsort Trier eine 6,30 Meter hohe Statue des Philosophen geschenkt. Antikommunisten schäumten vor Wut. Hubertus Knabe, Leiter der „Gedenkstätte“ Hohenschönhausen, meinte in einem Interview mit dem Magazin Cicero, solche Statuen seien „typisch für Monarchien und Diktaturen, nicht aber für Demokratien“. Wieder einmal der Vorwurf: Mit Marx werde viel zu unkritisch umgegangen.
Weshalb Knabe das Marx-Gedenken kritisiert, wird im selben Interview hervorgehoben. Marx Fehler sei gewesen, den Kapitalismus zu kritisieren. Denn: „Wer die wirtschaftliche Freiheit abschafft, schafft auch die politische Freiheit ab“. Knabe gibt sich damit als Anhänger des Liberalismus zu erkennen, einer Ideologie, die mit Sklaverei, Kolonialismus und Massenmord nicht nur kein Problem, sondern dies sogar propagiert hat. Freilich blenden seine Anhänger die dunkle Seite ihrer Ideologie gern aus.
Ungeachtet der Kritik und der vielen Schmähungen seitens der Konservativen und Liberalen wird das Werk von Marx heute immer noch anerkannt. Lothar de Maizière (CDU), der letzte und der erste „frei gewählte“ Ministerpräsident der DDR, ist sicherlich kein Marx-Anhänger. Aber er kam kürzlich in einem Interview mit der Neuen Presse nicht umhin, die Aktualität des sozialistischen Klassikers zu bestätigen. „Heute benehmen sich Unternehmer zunehmend so, wie man es früher im Marxismus-Leninismus-Unterricht gelernt hat“, sagte er im Zusammenhang mit den Aktivitäten des Siemens-Konzerns.
Andere Länder, anderer Umgang mit Marx
Raoul Peck, Regisseur des Films „Der junge Karl Marx“, sagte: „Als die Welt sich wiederholt im Ausnahmezustand der Finanzkrise befindet, erlebt Karl Marx ein unerwartetes wie neu erwachtes Interesse“. In den letzten Jahren sei er auf den Titelblättern der großen Magazine der Welt zu sehen gewesen: Time, Newsweek, Forbes, Financial Times, Der Spiegel. Und 2014 habe der französische Ökonom, Thomas Piketty, rund 450.000 Exemplare seiner neu aufgelegten Analyse der Thesen von Karl Marx („Der Kapitalismus im 21. Jahrhundert“) verkaufen können.
Während in Deutschland der Antikommunismus aktuell noch staatstragend ist, gehen die Menschen in vielen anderen Ländern viel unverkrampfter mit dem Erbe von Marx um. Ein Blick nach Asien genügt: In Nepal, das zwischen Indien und China liegt, wird die Regierung von einer kommunistischen Partei gestellt. Eine andere kommunistische Partei ist die größte Oppositionspartei. In Indien kam es 2016 zu einem Generalstreik, an dem sich rund 180 Millionen Menschen beteiligten – 30 Millionen mehr als ein Jahr zuvor. Federführend bei der Organisation des Generalstreiks: Kommunistische Parteien.
Auch mit Blick auf die wissenschaftliche Literatur lässt sich feststellen, dass die international geführte Diskussion um Marx‘ Werk viel unverkrampfter geführt wird als in Deutschland. Zu erwähnen ist hier das von Jonathan Sperber verfasste Buch „Karl Marx. Sein Leben und sein Jahrhundert“. Entgegen Marx‘ Heroisierung in der DDR und entgegen seiner Diffamierung in Westdeutschland versucht der Brite, das Leben von Marx im Kontext seiner Zeit zu beschreiben, einer Zeit, deren Prägung auch für Marx‘ Persönlichkeit maßgeblich war. „Um Marxens Ideen zu verstehen, genügt es nicht, ihren intellektuellen Inhalt zu kennen; Man muss sie im größeren Zusammenhang seines Lebens sehen.“ (S. 11)
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Ein anderer Blick auf Karl Marx
Sperber wendet sich bewusst gegen eine Behandlung von Marx, wie sie in den vergangenen Jahrzehnten betrieben wurde. Zwei Linien habe es demnach gegeben: „Dann gibt es zwei Varianten unter dem Generaltitel Marxologie oder marxistische Theorie“. Die erstere wolle „Marx aktualisieren, seine Ideen relevanter erscheinen lassen, indem sie ihnen etwas hinzufügen oder sie umdeuten im Lichte der Psychoanalyse, des Existentialismus, des Strukturalismus, des Poststrukturalismus oder sie mit Elementen einer sonstigen intellektuellen Bewegung versehen, die in den Jahren zwischen Marx‘ Tod 1883 und der Gegenwart aufgetreten sind“. Die andere Variante bestehe darin, „Marx‘ Ideen so gründlich zu erforschen, dass man Revisionen und spätere Zusätze tilgen und den Marxismus in seiner ursprünglichen Reinheit wiederherstellen kann, ein Projekt, das eher zu Anhängern einer Offenbarungsreligion passt als zu Verfechtern einer angeblich säkularen und rationalistischen Theorie“. (S. 13)
Letztendlich geht es Sperber um einen anderen Blick auf Marx. Seine Ideen sollen im Lichte seiner Zeit gesehen werden und weniger als Prophezeiungen. Marx analysierte die Gesellschaft seiner Zeit und kam zu Erkenntnissen, die zu Teilen auch heute noch gültig sind. Zu Teilen, denn schließlich entwickelte sich der Kapitalismus weiter und war einigen – gravierenden – Wandlungen unterworfen. Viel zu oft wurden dagegen seine Aussagen aus dem Kontext gerissen, um fast 100 Jahre später immer noch politische Entscheidungen zu rechtfertigen. Marx-Zitate ersetzten viel zu oft das intellektuelle Streben seiner Anhänger.
Raoul Peck empfiehlt auch einen anderen Umgang mit dem Erbe von Marx: Jetzt sei es möglich, zu dem zurück zu kehren, was Marx an wissenschaftlicher Arbeit geleistet hat, ohne deshalb Schuldgefühle zu entwickeln. Eine gute Idee. Denn Liberalen und Konservativen kommt schließlich auch nicht die Schamesröte ins Gesicht bei Anblick der Geschichte ihrer Ideologien und deren Auswirkungen: Rassismus, Faschismus, hundertmillionenfacher Mord, Unterdrückung und Entrechtung des eigenen Volkes, Krieg. Angesichts der aktuellen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen ist ein neues Selbstbewusstsein angebracht. Es ist keine Verfehlung sich mit Marx zu beschäftigen und sich zu seiner Philosophie zu bekennen; es ist notwendig.
Heute noch aktuell: Wir können die Umstände ändern
August Diehl, der im Film den jungen Karl Marx hervorragend verkörpert, meinte, dass der Film „unheimlich zeitgemäß“ sei. „Obwohl vielleicht auch wir das Gefühl haben, in einer Art Zeitenwende zu leben, sind wir um einiges passiver, hilfloser als die Menschen damals.“. Und vielleicht würden wir in diesem Film etwas sehen können, das wir verloren haben: Mut. Einsicht, dass der Einzelne es in der Hand hat, die Umstände, in denen wir leben, zu verändern.
Zum Abschluss noch ein paar Worte von Vicky Krieps, die in „Der junge Karl Marx“ Jenny Marx, Karls Ehefrau, spielt. Man könnte sagen, sie fordert die Menschen hierzulande auf, ihre Komfortzone zu verlassen, um etwas im Land zu verändern: „Jenny Marx war eine sehr starke Frau, die bescheiden und zeitlos ihre Epoche beeinflusst hat, ohne jemals selbst wirklich im Mittelpunkt zu stehen. Aber sie wusste, dass es im Leben um mehr geht als irgendwelche privaten Befindlichkeiten. Sie hat ihr Leben einer Sache verschrieben, die einfach größer war. Und dafür war sie bereit, auf vieles zu verzichten und einiges zu erdulden“.
Zuerst veröffentlicht in: Blicklicht, Ausgabe Mai 2018