Jeder Tellerwäscher könne zum Millionär werden, ist die kurze Umschreibung des „amerikanischen Traums“. Dass dieser Traum für die Allermeisten nicht wahr werden kann, müsste jedem mit halbwegs gesundem Menschenverstand klar sein. Dennoch zählt er immer noch zum Repertoire US-amerikanischer Imagekampagnen.
Der Journalist George Packer hatte schon in seinem Buch „Die Abwicklung“ geschrieben, die USA seien vom hemmungslosen Kapitalismus zerfressen. Banken und Konzerne hätten den Zusammenhalt des Landes untergraben.
Nun warnt auch der Joseph E. Stiglitz, Nobelpreisträger für Wirtschaftswissenschaften, im Handelsblatt vor den sozialen Verwerfungen in den USA. Besonders die Kinder seien betroffen. Jedes fünfte Kind, etwa 15 Millionen an der Zahl, lebt in Armut – mehr als in England oder den „nordischen Staaten“.
„Einkommensungleichheit steht in Zusammenhang mit Ungleichheit in den Bereichen Gesundheit, Zugang zu Bildung und Auslieferung gegenüber Umweltrisiken. Tatsächlich wird bei fast einem Fünftel der armen amerikanischen Kinder Asthma diagnostiziert. Das sind 60 Prozent mehr als bei den anderen Kindern. Lernschwächen treten bei Kindern aus Haushalten mit einem jährlichen Einkommen von unter 35000 Dollar beinahe doppelt so häufig auf wie bei Kindern aus Haushalten mit einem Einkommen von über 100000 Dollar. Und manche Abgeordnete im US-Kongress wollen noch bei den Lebensmittelmarken sparen, auf die etwa 23 Millionen amerikanische Haushalte angewiesen sind.“
Weil die Lebensperspektiven eines US-amerikanischen Kindes in höherem Maße vom Einkommen und von der Bildung der Eltern abhängen als in anderen Industrieländern, würden die USA mittlerweile die geringste Chancengleichheit unter den Industrieländern aufweisen. Von den Studenten an den Eliteuniversitäten kämen nur neun Prozent der Studenten aus der unteren Einkommenshälfte. 74 Prozent dagegen aus dem oberen Viertel.
Im einem US-Bundesstaat wie Kalifornien würde für Gefängnisse etwa gleich viel ausgegeben wie für höhere Bildung – manche sogar noch mehr.
Harte Arbeit wird wohl nicht ausreichen, um den 15 Millionen Kindern in den USA den sozialen Aufstieg zu ermöglichen. Stiglitz plädiert deshalb dafür, tragfähige soziale Netze in den USA zu schaffen, eine progressive Besteuerung einzuführen und den Finanzsektor besser zu regulieren.
Damit die Politiker etwas ändern, müssten sie noch viel öfter mit den Fakten konfrontiert werden. Ob das allerdings ausreichen wird, ist zu bezweifeln, und Stiglitz sollte das wissen. Das politische und wirtschaftliche System wird nicht durch die Kräfte geändert, die es momentan beherrschen und von ihm profitieren. Solange die arbeitenden Menschen keine Änderungen erkämpfen, wird sich wohl nichts ändern.
Bild: Joseph Stiglitz at Asia Society New York (Asia Society/flickr.com – CC BY-NC-ND 2.0)