Sind Kinder in der Corona-Pandemie zu Opfern staatlichen Handelns geworden? Unter den Einschränkungen gediehen nicht nur psychische Erkrankungen bei ihnen, auch die Gewalt gegen Kinder stieg deutlich an.
Nach mehr als einem Jahr der Pandemie haben Politiker, Funktionäre und Medien eine Entdeckung gemacht: Mitten unter uns leben Kinder – und in den letzten Monaten hat man sie vergessen und übersehen, wenn es darum ging, Entscheidungen zu treffen. Diese Entdeckung ist erfreulich, gleichzeitig mutet sie sich sonderbar an: Hat man die Kinder jetzt wieder für sich entdeckt, damit die Eltern pünktlich zur Wahl etwas besänftigt sind?
Einen Grund, wütend zu sein, gibt es allemal – für Eltern und für Kinder. Inzwischen lässt es sich nicht mehr wegdiskutieren: Von der Bundesregierung verordnet, sollten die Maßnahmen gegen die Pandemie helfen, sollten verhindern, dass sich der Virus ausbreitet – und diesem Ziel hat man die Kinder geopfert. Psychische Erkrankungen nahmen bei Kindern zu, Gewalt gegen sie auch.
Kürzlich stellte die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) eine Studie vor. Untersucht hatte man die psychische Gesundheit von Kindern und Jugendlichen. Das Ergebnis: Depressionen und Angststörungen haben in allen Ländern bei Menschen jeden Alters zugenommen, in manchen Ländern sogar um das Doppelte. Kinder und Jugendliche waren aber besonders betroffen: Bei ihnen lagen die Werte – je nach Land – zwischen 30 und 80 Prozent über denen von Erwachsenen. Als die Studie vorgestellt wurde, erklärte ein OECD-Mitarbeiter: Die Entwicklung komme nicht unerwartet – das Ausmaß dagegen schon.
Die Studie zeigt einen direkten Zusammenhang zwischen Lockdown und Anstieg der psychischen Erkrankungen. Begründet wird das damit, dass Kinder und Jugendliche im Lockdown den Risikofaktoren schutzlos ausgeliefert gewesen sein: Armut, Isolation, Ängsten um die eigene Zukunft, plötzliche Arbeitslosigkeit der Eltern. Und was den Kindern einen gewissen Schutz geboten hätte, wurde ihnen von der Regierung genommen: soziale Beziehungen, Sport, Schule.
Vielfach bot auch das Zuhause keinen Schutz mehr. Das verdeutlichten die Zahlen, die Johannes-Wilhelm Röring, Missbrauchsbeauftragter der Bundesregierung, und Holger Münch, Präsident des Bundeskriminalamtes (BKA), am Mittwoch vorstellten. Kinder wurden im letzten Jahr öfter misshandelt und missbraucht.
Im Jahr 2020 kamen 152 Kinder gewaltsam zu Tode, drei Viertel von ihnen wurde keine sechs Jahre alt. Das sind 40 mehr als im Vorjahr. In 134 Fällen erfolgte ein Tötungsversuch. Die Zahl der Kindesmisshandlungen stieg um zehn Prozent auf 4.918 Fälle, beim Kindesmissbrauch stieg sie um 6,8 Prozent auf über 14.500 Fälle. Um mehr als 50 Prozent wuchs die Zahl der erfassten Fälle von Kinderpornografie und stieg damit auf 18.761.
Wurden mehr Straftaten begangen oder nur mehr aufgeklärt – für BKA-Präsident Münch ist die Frage nur „extrem schwer zu beantworten“. Es sei aber anzunehmen, dass die Zunahme der Gewalt mit der Corona-Pandemie zusammenhänge.
Einen Zusammenhang sehen auch Kinderschutzorganisationen, auch wenn sie darauf verweisen, dass die Sachlage kein eindeutiges Bild gebe. So erklärte ein Sprecher des Deutschen Kinderhilfswerkes (DKHW), seit Beginn der Pandemie wurde ein Anstieg der häuslichen Gewalt gegen Kinder befürchtet. Zwar hätten die Anrufe bei der Kinderschutzhotline stark zugenommen, aber ein Ansturm auf die Gewaltambulanzen sei ausgeblieben. Gleichwohl seien die Fälle, die zu den Gewaltambulanzen kamen, schwerer gewesen.
„Insgesamt ist davon auszugehen, dass aufgrund der erhöhten Konflikt- und Stresssituationen in den Familien die Gewalt gegen Kinder zugenommen hat“, heißt es beim DKHW. Weil Kinder keinen Umgang mit Lehrern, Erziehern, Mitarbeitern der Kinder- und Jugendhilfe oder anderen „Kontrollinstanzen“ haben konnten, blieben viele Fälle unentdeckt und die „ohnehin hohe Dunkelziffer“ sei wohl weiter angestiegen.
Ähnlich klingt es beim Deutschen Kinderschutzbund (DKSB), dessen Präsident, Heinz Hilgers, gegenüber der Deutschen Presse-Agentur gesagt hatte: In der Pandemie hätten viele Familien unter hohem Stress auf engem Raum zusammengelebt. „Die gestiegene Belastung vieler Eltern durch Home Schooling und Home Office bei oft mangelnder technischer Ausstattung haben den Stress verschärft.“ Stress und Verzweiflung seien wiederum Faktoren, die zu Gewalt führen können, erklärte eine Sprecherin des DKSB auf Anfrage. Gleichzeitig seien etablierte Strukturen für die Prävention in der Pandemie nicht zum Tragen gekommen.
Beide Kinderschutzorganisationen werben für eine bessere Präventionsarbeit und für eine „finanziell abgesicherte und funktionierende Kinder- und Jugendhilfe“. Und sie werben dafür, dass der Regelbetrieb in Kita und Schule wieder aufgenommen wird. Und wo das nicht möglich sei, sollten alle Kinder in belasteten sozialen Situationen einen uneingeschränkten Zugang zur Notbetreuung erhalten. Darüber hinaus fordern sie etwas Grundsätzliches: Die Haltung gegenüber Kindern müsse sich in Deutschland ändern. Kinderrechte müssten in das Grundgesetz aufgenommen werden, damit Kinder nicht mehr einfach übergangen werden können und damit Gesetzgebung, Rechtsprechung und Verwaltungshandeln im Sinne der „besten Kinderinteressen“ beeinflusst werden.