Vor eineinhalb Wochen haben sich die Staats- und Regierungschefs der 28 EU-Mitgliedsländer auf eine neue Energie- und Klimapolitik geeinigt. Während Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) den gefundenen Kompromiss lobte, hagelte es Kritik von Umweltverbänden und aus dem Europaparlament.
In der Nacht zum Freitag hatte sich der Europäische Rat auf einen Rahmen für die Klima- und Energiepolitik bis zum Jahr 2030 verständigt. Für den Anteil der erneuerbaren Energien am Energieverbrauch wurde ein EU-weites Ziel von 27 Prozent festgelegt. Für die Verbesserung der Energieeffizienz wurde ebenfalls eine Zielmarke von 27 Prozent festgesetzt. Die Emission von Treibhausgasen soll demnach bis 2030 um mindestens 40 Prozent im Vergleich zu 1990 sinken.
Sie sei sehr zufrieden mit dem Fortschritt, sagte Merkel am Freitagmorgen bei einer Pressekonferenz in Brüssel. Die Übereinkunft mache „Europa zu einer entscheidenden Partei, wenn es um die nächsten Klimaverpflichtungen bindender Art in einem internationalen Abkommen geht“. Der französische Präsident Francois Hollande sieht in der Einigung eine klare Botschaft an Länder wie China und die USA im Vorfeld des Weltklimagipfels 2015 in Paris.
Umweltorganisationen sehen dagegen den Beschluss nicht sonderlich positiv. Die Umwelt- und Entwicklungsorganisation Germanwatch rief dazu auf, die beschlossenen Minimalziele nachzubessern. „40 Prozent Reduktion bis 2030 – dieses Emissionsziel liegt weit unterhalb dessen, was wissenschaftlich nötig wäre, um die Klimaerwärmung langfristig auf maximal zwei Grad zu begrenzen“, sagte Christoph Bals, Politischer Geschäftsführer von Germanwatch.
Die EU hätte das Ziel aufgegeben, den Klimawandel einzudämmen, kommentierte Hubert Weiger, Vorsitzender Bundes für Umwelt und Naturschutz Deutschland (BUND), den Europaratsbeschluss. “Mit dieser Politik werden wir keinen angemessenen Beitrag zum globalen Klimaschutz leisten”, sagte Weiger. Die nächsten 15 Jahre seien genau die Zeit, in der die globalen Emissionen drastisch sinken müssten, um die schlimmsten Folgen des Klimawandels einzudämmen. Europa müsse seine Emissionen bis 2030 um mindestens 60 Prozent reduzieren, um seinen Teil zur Verhinderung der globalen Erwärmung über zwei Grad zu leisten.
Die Ergebnisse seien enttäuschend, sagte auch Jürgen Resch, Geschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe. „Das verbindliche CO2-Reduktionsziel um mindestens 40 Prozent bis 2030 war der kleinste gemeinsame Nenner – nicht mehr.“ Gleichzeitig seien die Beschlüsse für den Ausbau der Erneuerbaren Energien ein Desaster. Ein Zubau von lediglich 27 Prozent bis 2030 sei viel zu wenig. Das seien lediglich 0,8 Prozent pro Jahr und damit deutlich weniger als bisher. Auf diese Weise werde die EU erst weit nach 2050 ohne fossile Energieträger auskommen. Die unverbindlichen Energieeffizienz-Ziele würden die Energiewende zusätzlich ausbremsen, zumal kein Mitgliedstaat wirklich zum Handeln verpflichtet werde.
Bei genauerem Hinschauen lässt sich tatsächlich kaum erkennen, worin der Fortschritt zu sehen sein soll, den Angela Merkel wahrgenommen haben will. Dass überhaupt ein Beschluss des Europarates zu neuen Rahmenbedingungen in der Energie- und Klimapolitik zustande gekommen ist, dürfte der eigentliche „Fortschritt“ sein. Denn noch wenige Tage vor dem Gipfeltreffen warnte Severin Fischer, Energieexperte bei der Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP), die auch die Bundesregierung berät, davor, dass selbst ein Minimalkompromiss an den nationalen Interessen einiger EU-Länder scheitern könnte. Dass nun doch alle Staats- und Regierungschef der EU-Mitgliedsländer dem Kompromissvorschlag der Europäischen Kommission zugestimmt haben, war letztendlich auch davon bestimmt, dass man im nächsten Jahr nicht mit leeren Händen zum Weltklimagipfel nach Paris fahren will. Nur wenn sich die EU-Staaten einig sind, können sie im kommenden Jahr glaubhaft für ein weltweit verbindliches Klimaabkommen eintreten.
Seit dem Klimagipfel 2009 in Kopenhagen hätten sich die Konflikte zwischen den EU-Staaten verschärft, schreibt Fischer. Das größte Konfliktpotenzial biete die Frage, wie stark die Emission von Treibhausgasen gesenkt werden solle. Während die meisten westeuropäischen Länder ihre Wirtschaft und ihre Energiesysteme umbauen wollen, sperren sich mittel- und osteuropäischen Länder dagegen. Diese meinen, eine ambitionierte Klimapolitik gefährde Wirtschaft und Arbeitsplätze.
So hat die EU-Kommission vorgeschlagen, die Emissionen bis zum Jahr 2020 um 20 Prozent und bis 2030 um 40 Prozent gegenüber 1990 zu senken – ein wenig ambitioniertes Ziel, findet Fischer, da bereits im Jahr 2012 eine Verringerung der Emissionen um 18 Prozent nachgewiesen wurde.
Doch für die energieintensiven Industrien ist das wenig ambitionierte Ziel für das Jahr 2030 noch zu viel. Aus ihrer Sicht ist das 40-Prozent-Ziel nur akzeptabel, wenn es weltweit gilt. So sagte der Hauptgeschäftsführer des Bundesverbandes der Chemischen Industrie (VCI) Utz Tillmann: „Wenn der Gipfel ein bedingungsloses 40-Prozent-Ziel zur Treibhausgas-Emission bis 2030 beschließt, zwingt das unsere Wettbewerbsfähigkeit in die Knie.“ Europa dürfe nicht zur Hochpreisinsel im globalen Wettbewerb werden, meinte Oliver Bell, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Metalle (WVM). Und Hans Jürgen Kerkhoff, Präsident der Wirtschaftsvereinigung Stahl, klagte, über die Belastung seiner Branche: Die Kosten des Emissionshandels für die Stahlindustrie in Deutschland werde sich im Jahr 2030 auf 1,4 Milliarden Euro belaufen. So „werde sich die deutsche und europäische Stahlindustrie im Wettbewerb mit Konkurrenten in Ländern ohne Emissionsrechtehandel langfristig nicht behaupten können“, warnte Kerkhoff.
Caio Koch-Weser, Vice Chairman der Deutschen Bank und Aufsichtsratsvorsitzender der European Climate Foundation, und Paul Polman, Vorstandsvorsitzender von Unilever und Chairman des World Business Council für Sustainable Development, widersprechen den energieintensiven Industrien. Sie weisen darauf hin, dass hohe Anforderungen an den Klimaschutz der Wirtschaft keinen Schaden zufügen. So habe beispielsweise die europäische Chemieindustrie seit 1990 die Emissionen halbieren und gleichzeitig die Produktion um 20 Prozent steigern können. In einer Studie habe die European Climate Foundation unter Mitwirkung der Beratungsgesellschaft McKinsey gezeigt, dass bei zahlreichen Chemieprodukten die Emissionen um weitere 50 bis 75 Prozent gesenkt werden könnten. In 60 bis 70 Prozent dieser Fälle hätte der Emissionsabbau entweder keinen oder einen positiven Einfluss auf die Wettbewerbsfähigkeit der Unternehmen, weil Recycling und Wiederverwertung Kosten senken.
Gegen ehrgeizige Klimaziele hatten sich vor allem Polen, Tschechien, die Slowakei, Ungarn, Rumänien und Bulgarien ausgesprochen. Hohe CO2-Einsparungen würden ihre Wirtschaft zu stark belasten. Deshalb forderten sie spezielle Förderprogramme, um ihre Wirtschaft und ihre Energieerzeugung modernisieren zu können. Die polnische Regierung forderte zudem, dass es seinen Energieerzeugern auch weiterhin Emissionszertifikate kostenlos zuteilen kann, während die Energieerzeuger in anderen EU-Ländern schon heute für ihre Emissionsrechte zahlen müssen.
Die Bundesregierung unter Angela Merkel hat nun diesen Forderungen zugestimmt. Mit der polnischen Regierungschefin Ewa Kopacz kam sie überein, dass deren Staat einen erheblichen Teil der künftigen Einnahmen aus dem Handel mit Verschmutzungsrechten einsetzen darf, um die veralteten Kraftwerke zu modernisieren. Warschau wird außerdem über 2020 hinaus im Rahmen des europäischen Emissionshandels kostenlose Verschmutzungsrechte erhalten.
Zahlreiche Unternehmen, die von Investitionen in klimafreundliche Technologien profitieren, hatten sich in einem Brief an den noch amtierenden EU-Ratspräsidenten Herman van Rompuy für ein Effizienzziel von 40 Prozent eingesetzt. Wenn die europäischen Unternehmen effizienter mit Energie umgingen, könnte die Abhängigkeit der EU von Energieimporten deutlich gesenkt werden. Ähnlich hatte die EU-Kommission argumentiert. Doch Großbritannien lehnte ein Ziel für die Energieeffizienz bisher ab und einige osteuropäische Staaten bremsten ebenso. Britische Europaskeptiker verbinden mit dem Effizienzziel die umstrittene Ökodesign-Richtlinie, die weniger verbrauchsstarke Staubsauger und Kühlschränke vorsieht. Der britische Premierminister David Cameron will sich offensichtlich nicht mit diesen Skeptikern anlegen. Dennoch haben die Briten nun für das Kompromissziel von 27 Prozent und die Option gestimmt, 2020 zu überprüfen, ob das Effizienzziel erhöht werden soll.
Der Anteil der erneuerbaren Energien am gesamten europäischen Energiemix war genauso umstritten, schreibt Severin Fischer. Hatten sich die EU-Staaten darauf geeinigt, bis 2020 den Anteil der erneuerbaren Energien auf 20 Prozent zu erhöhen, so war es unklar, ob sie auch weiterhin Gegenstand der EU-Energiepolitik sein sollten. Das 20-Prozent-Ziel wurde bisher so geregelt, dass es für jedes EU-Mitglied differenzierte, aber verbindliche nationale Ziele gab. Nun sperren sich die osteuropäischen Länder gegen eine Fortsetzung genauso wie Großbritannien und die Niederlande. Der Vorschlag der EU-Kommission, der letztlich auch angenommen wurde, sah vor, dass der Anteil der erneuerbaren Energien auf 27 Prozent bis 2030 erhöht werden soll, wobei den einzelnen Mitgliedsstaaten aber keine Vorgaben mehr gemacht werden sollen.
Dass die Europäische Union im Begriff ist, im Klimaschutz zu versagen, zeigt sich nicht nur an den wenig ambitionierten Klimazielen. Um den Widerstand Polens und Großbritanniens zu brechen, musste von Deutschland eine hoch umstrittene Passage im Beschluss akzeptiert werden, die gerade den Bremsern der EU-weiten Klimapolitik ein Vetorecht einräumt.
Die betreffende Passage sieht vor, dass der Europäische Rat selbst dann noch mit dem Klimadossier befasst sein soll, wenn die EU-Kommission bereits konkrete Schritte für die Umsetzung der Klimapolitik vorschlägt. Bisher wurden die konkreten Maßnahmen zur Umsetzung der Klimapolitik in einem Zusammenspiel aus Kommission, EU-Parlament und Fachministerien der Mitgliedsstaaten beschlossen. Letztere beschließen mit einer qualifizierten Mehrheit, was ein Veto einzelner Länder ausschließt. Doch durch die neue Regelung wird dieses Verfahren ausgehebelt. Über den Beschluss im Europäischen Rat würden die Fachministerien an die Einstimmigkeit gebunden.
Unter den EU-Parlamentariern ist die Aufregung groß. Der CDU-Abgeordnete Peter Liese spricht von einem „Anschlag auf die Demokratie in Europa“. Diese Regelung blockiere die EU-Klimapolitik weiter und das könne man sich nicht leisten.
Auch Umweltschützer sind entsetzt. „Das wäre das Ende einer koordinierten EU-Klimapolitik“, sagte Christoph Bals von Germanwatch. „Das Blockadepotenzial würde sich auf einen Schlag vervielfachen. Die Energiewende werde so ausgebremst und letztendlich müsste sich Berlin aus der EU-Klimapolitik verabschieden. „Am Ende hätten wir ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten“, denn die Ziele Deutschlands und die der skandinavischen Länder drohten mit denen der EU unvereinbar zu werden.
Bild: Europa-Rat / Council of Europe by Christian Rüfli/flickr.com (CC BY-NC-ND 2.0)