Die zunehmende Ungleichheit in Deutschland und in anderen Ländern hat die Finanz- und Wirtschaftskrise mit verursacht. Zu diesem Ergebnis kommen die Ökonomen Till von Treeck vom Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) in der Hans-Böckler-Stiftung und Simon Sturn von der University of Massachusetts in Amherst. Am 16. August wurde ihre Studie veröffentlicht.
Deutschland habe sich in den vergangenen zehn Jahren zu stark auf Exporterfolge konzentriert, stellen die Autoren fest genauso wie der Internationale Währungsfond, die OECD, die EU-Kommission und die Internationale Arbeitsorganisation (ILO). Die Krise im Euroraum sei die Schattenseite der deutschen Strategie, die mit einer stärkeren Binnennachfrage in der Bundesrepublik wirkungsvoll bekämpft werden könnte. Dafür müsste Deutschland aber das Problem der Einkommensungleichheit angehen, betonen van Treeck und Sturn. Im Rahmen eines Forschungsprojekts der ILO haben die beiden Ökonomen die Effekte zunehmender Ungleichheit in verschiedenen Ländern analysiert und werteten dazu eine Vielzahl wissenschaftlicher Quellen aus.
Seit der Jahrtausendwende seien die Löhne der deutschen Arbeitnehmer kaum gestiegen und die Schere zwischen großen und kleinen Einkommen sei weiter auseinander gegangen. Zwischen 2001 und 2007 sank die Lohnquote gemessen am Bruttoinlandsprodukt um mehr als fünf Prozent. In den Jahren 1999 bis 2009 wuchs das verfügbare Einkommen des reichsten Zehntels um 16,6 Prozent, des ärmsten Zehntels schrumpfte um 9,6 Prozent. Im Vergleich mit anderen europäischen Ländern hätten sich die Löhne in Deutschland weit unterdurchschnittlich entwickelt und die deutsche Wirtschaft konnte diesen Wettbewerbsvorteil noch weiter ausbauen. Dagegen sei die Binnennachfrage durch diese Entwicklung gedämpft worden. Die Hartz-Reformen seien ein wesentlicher Faktor. Durch sie sei das Wachstum des Niedriglohnsektors weiter angetrieben worden. Ein Gefühl der Unsicherheit und die Angst vor Jobverlust würden sich bis die Mittelschicht ausbreiten.
Auch in den USA würde die Einkommensungleichheit weiter zu nehmen. Doch dort würden viele Bürger immer mehr Schulden aufhäufen, um sich trotz niedriger Einkommen einen normalen Lebensstandard zu ermöglichen. Der private Konsum hätte in diesem Fall zwar die wirtschaftliche Entwicklung gestützt, aber der Kauf auf Pump sei eine der Ursachen für die Finanz- und Wirtschaftskrise gewesen.
Die Deutschen würden dagegen ein anderes Verhalten zeigen, um trotz sinkender Einkommen ihren Lebensstandard zu halten. Sie würden einen größeren Teil des Einkommens sparen. Diese Reaktion sei auch dem typisch deutschen institutionellen Rahmen geschuldet, stellen die beiden Ökonomen fest:
- Deutsche Arbeitnehmer würden in hochspezialisierten Industriezweigen arbeiten. Wenn Reformen Entlassungen erleichtern und gleichzeitig die Ungleichheit steigt, befürchteten viele Arbeitnehmer, wenn sie entlassen werden, nirgendwo anders unterzukommen. Deshalb sparen sie.
- Reformen des Sozialstaats, wie die Teilprivatisierung der Altersrente, ließen die Beschäftigten ebenfalls mehr Geld sparen.
- Die relativ niedrige Erwerbsbeteiligung von Frauen und der sehr große Lohnabstand würden dazu führen, dass sie vor allem über den Ehemann sozial abgesichert sind. Der Jobverlust des Mannes wäre unter diesen Bedingungen besonders dramatisch, was wieder zum Sparen führt.
Diese Faktoren ließen die Binnennachfrage nicht mehr wachsen, macht die Analyse deutlich. Seit der Jahrtausendwende sei das deutsche Wirtschaftswachstum nur auf den Export zurückzuführen. Starker Export, schwache Inlandsnachfrage und hohe Sparquote würden einen dauerhaft hohen Leistungsbilanzüberschuss verursachen. Damit lebe Deutschland auch von der Überschussnachfrage der europäischen Nachbarn. Diese Nachfrage basierte wiederum auf kreditgestützten Käufen.
Van Treeck und Sturn empfehlen deshalb Reformen, welche die Einkommensungleichheit reduzieren. Wichtig seien Lohnabschlüsse, die den Verteilungsspielraum ausnutzen. Die Politik könne dies unterstützen: Tarifabschlüsse sollten für allgemein verbindlich erklärt werden, ein gesetzlicher Mindestlohn sollte eingeführt und die Leiharbeit eingedämmt werden.