Die Armut in Deutschland nimmt weiter zu, berichtet der Paritätische Wohlfahrtsverband. Nach Veröffentlichung seines Armutsberichtes „Die zerklüftete Republik“ schlagen auch andere Sozialverbände Alarm. Sie fordern einen nationalen Aktionsplan zur Armutsbekämpfung sowie einen rigorosen steuerpolitischen Kurswechsel.
Die Armutsquote habe in Deutschland mit 15,5 Prozent (das sind 12,5 Millionen Menschen) ein neues Rekordhoch erreicht. Dabei sei die Armut flächendeckend angestiegen in 13 der 16 Bundesländer. Nur Sachsen-Anhalt und Brandenburg verzeichneten einen Rückgang, wobei deren Armutsquote immer noch auf einem hohen Niveau liegt. Besonders schlecht entwickelten sich aber das Ruhrgebiet, Bremen, Berlin und Mecklenburg-Vorpommern. Als neue Problemregion könnte sich dem Bericht zufolge neben dem Ruhrgebiet in Nordrhein-Westfalen auch der Großraum Köln entpuppen. Dort leben mehr als fünf Millionen Menschen und seit 2006 sei dort die Armut um 31 Prozent gestiegen.
Erwerbslose, Alleinerziehende, Kinder und Rentner sind besonders von der Armut betroffen. Fast jeder zweite Alleinerziehende und rund 60 Prozent der Erwerbslosen leben in Armut. Fast jedes fünfte Kind wächst in Armut auf – ebenfalls ein Höchststand seit 2006. Viermal so stark wie der Durchschnitt sei die Zahl der armen Rentner seit 2006 gestiegen; keine andere Bevölkerungsgruppe zeige eine so rasante Armutsentwicklung.
Als arm gilt, wer weniger als 60 Prozent des bedarfsgewichteten Median-Einkommens zur Verfügung hat. Die so errechnete Armutsgefährdungsgrenze lag 2013 für einen Single-Haushalt bei 892 Euro. Für Familien mit zwei Erwachsenen und zwei Kindern unter 14 Jahren lag sie bei 1873 Euro.
Im Wahljahr 2013 hatte die Bundesregierung noch behauptet, die Einkommensschere in Deutschland schließe sich wieder. Doch das Gegenteil ist der Fall (UZ berichtete). Sie habe damals ebenso behauptet, die Armut sei „in den letzten Jahren im Großen und Ganzen relativ konstant geblieben“, heißt es in dem Bericht. Doch auch hier ist das Gegenteil der Fall: Lag 2006 die Armutsquote noch bei 14 Prozent, stieg sie danach schrittweise an, wurde in den Jahren 2010 und 2012 lediglich gebremst, „aber weder gestoppt noch umgedreht“.
Politisch alarmierend dürfte ebenso sein, heißt es in dem Bericht weiter, dass sich „Arbeitslosenzahlen und Armutsquoten in ihrer Entwicklung nicht nur abgekoppelt haben, sondern sich im Trend geradezu entgegengesetzt entwickeln“. Während die Zahl der Arbeitslosen seit 2006 gefallen sei, sei die Armutsquote gestiegen. Der Grund dafür sei die wachsende Zahl an Menschen „im Niedriglohnsektor und in prekären Beschäftigungs- und nicht auskömmlichen Teilzeitbeschäftigungsverhältnissen“. Ein anderer Punkt sei die Zwei-Klassen-Arbeitsmarktpolitik, die sich vor allem auf die gut vermittelbaren Arbeitslosen konzentriere und alle anderen vernachlässige.
Als armutspolitischen Erdrutsch bezeichnete Ulrich Schneider, Hauptgeschäftsführer des Paritätischen Gesamtverbandes, die wachsende Armut unter Rentners. Diese Gruppe sei seit 2006 um 48 Prozent gewachsen und in diesem Jahr werde sie erstmals über dem bundesdeutschen Durchschnitt liegen, prognostiziert er. „Arbeitslosigkeit, Niedriglöhne und prekäre Beschäftigung schlagen sich zunehmend in niedrigen Rentenansprüchen nieder“, sagte Wolfram Friedersdorff, Präsident der Volkssolidarität. Gleichzeitig habe der Kurs auf Privatisierung der Alterssicherung, verbunden mit einer deutlichen Absenkung des Leistungsniveaus in der gesetzlichen Rente, spürbare Auswirkungen in den Alterseinkünften.
„Der deutliche Anstieg der Armut bei Alleinerziehenden und bei Rentnern ist eine klare Warnung an die Politik und Aufforderung, endlich zu handeln“ erklärte Friedersdorff weiter. Es könne nicht sein, dass wichtige Familienleistungen wie Kindergeld, Elterngeld oder Unterhaltsvorauszahlungen gerade bei den ärmsten Eltern, die auf Hartz IV angewiesen sind, vollständig auf das Einkommen angerechnet werden, sagte er. Wenn hier nicht das Dogma der Gesetzessystematik durchbrochen werde, bleibe es bei schönen Sonntagsreden und Klagen über Kinder- und Jugendarmut.
Der Paritätische Wohlfahrtsverband fordert ein umfassendes Maßnahmebündel zur Armutsbekämpfung. Neben einer deutlichen Erhöhung der Hartz-IV-Regelsätze seien insbesondere Reformen des Familienlastenausgleichs und der Altersgrundsicherung erforderlich, um Armut wirksam vorzubeugen. Dafür müsse allerdings ein rigoroser steuerpolitischer Kurswechsel eingeleitet werden, der große Vermögen und Einkommen stärker als bisher zur Finanzierung des Sozialstaats heranzieht.
Entwicklung der Armutsquote nach Bundesländern (Daten aus: “Die zerklüftete Republik”)
2010 | 2011 | 2012 | 2013 | |
Deutschland | 14,5 | 15,0 | 15,0 | 15,5 |
Baden-Württemberg | 11,0 | 11,1 | 11,1 | 11,4 |
Bayern | 10,8 | 11,1 | 11,0 | 11,3 |
Berlin | 19,2 | 20,6 | 20,8 | 21,4 |
Brandenburg | 16,3 | 16,8 | 18,1 | 17,7 |
Bremen | 21,1 | 22,0 | 22,9 | 24,6 |
Hamburg | 13,3 | 14,7 | 14,8 | 16,9 |
Hessen | 12,1 | 12,8 | 13,3 | 13,7 |
Mecklenburg-Vorpommern | 22,4 | 22,1 | 22,8 | 23,6 |
Niedersachsen | 15,3 | 15,5 | 15,7 | 16,1 |
Nordrhein-Westfalen | 15,4 | 16,4 | 16,3 | 17,1 |
Rheinland-Pfalz | 14,8 | 15,1 | 14,6 | 15,4 |
Saarland | 14,3 | 15,2 | 15,4 | 17,1 |
Sachsen | 19,4 | 19,5 | 18,8 | 18,8 |
Sachsen-Anhalt | 19,8 | 20,6 | 21,1 | 20,9 |
Schleswig-Holstein | 13,8 | 13,6 | 13,8 | 14,0 |
Thüringen | 17,6 | 16,7 | 16,8 | 18,0 |
Bild: Armut in Lübeck (Jean Pierre Hintze/flickr.com – CC BY-SA 2.0)
Zuerst veröffentlicht: Unsere Zeit, Nr. 09/2015
Bildquellen
- Armut in Lübeck: Jean Pierre Hintze/flickr.com | CC BY-SA 2.0